Durch das Prisma betrachtet
Der argentinische Avantgarde-Komponist Oscar Edelstein schrieb als Auftragswerk die vierteilige Komposition "Cristal Argento I". Edelstein zeigte sich nach der Uraufführung seines Stücks für Orchester und Elektronik sehr glücklich, denn Gómez und die Basel sinfonietta setzten diese polyphone, vielschichtige Klangkonstruktion mit ihren quasi-improvisierten Passagen, der kontinuierlichen Bewegung und den elektro-akustischen Raumklang-Wirkungen optimal um. Der elektronische Part trägt das Spiel des Orchesters in einen anderen Raum, eine andere Welt, ein anderes Klanguniversum, wie ein Traum, wie eine Erinnerung, oder wie der Blick durch ein Kaleidoskop, ein Prisma mit vielfältigen Brechungen. Ein mächtiger Schlagwerkapparat war im Einsatz, geballte, gebündelte Klänge von ungestümer Kraft stürzen auf den Zuhörer ein. Es war spannend, einmal solche avantgardistische Neue Musik aus Lateinamerika zu hören. Ein starkes Stück neuer Musik ist "Cristal Argento I" für Orchester und Live-Elektronik des Argentiniers Oscar Edelstein, das die sinfonietta zur Uraufführung bringt. Die - auch rhythmisch - vielschichtigen Klangfelder entwickeln sich wellenartig. Edelsteins dichte Musik, die die Tradition von Edgar Varèse weiterführt, hat eine Kraft, die unter die Haut geht, eine grosse Vitalität. Das Publikum ist begeistert und geniesst das "Danzón"-Finale als Zugabe. Oscar Edelstein, der 1953 in Argentinien das Licht der Welt erblickte, komponierte im Auftrag der Basel Sinfonietta das Orchesterstück „Cristal Argento I“, das erst vor einigen Wochen in Basel seine Welt-Uraufführung erlebte und am Dienstag im Franziskaner zum zweiten Mal zu hören war. Edelstein versteht sich als politischer Künstler: „Jede Form von Kunst ist politisch“, lautet sein Credo, „und politisch zu sein hier in Lateinamerika ist ein Risiko. Viele Menschen sind daran zugrunde gegangen… Man kann Blut schmecken in meiner Musik. Aber auch – so hoffe ich – Freude und Glück hören.“ Seine Komposition ist ein musikalisches Drama, das in die Abgründe der menschlichen Seele führt, in dem Angst, aber auch Hoffnung offenbar werden. Fugenähnliche Passagen und dynamische Klangteppiche, kurze unheilvolle Signale in den Bläsern, an Klagelaute erinnernde Klänge werden zeitversetzt elektronisch wieder eingespielt, im Hintergrund, allein oder das Orchester überlagernd. Eine tief berührendes Werk, das Akzente zu setzten vermag und angesichts eines zunehmenden Mainstreams in Gesellschaft und Kunst aufhorchen und hinterfragen lässt. |
Oscar Edelstein und seine Komposition Cristal Argento I
«Jede Form von Kunst ist politisch», sagt der argentinische Komponist Oscar Edelstein (*1953), «und politisch zu sein hier in Lateinamerika ist ein Risiko. Viele Menschen sind daran zu Grunde gegangen, und so wird es auch in Zukunft sein. Ein Künstler, der das nicht berücksichtigt, der lebt nicht in der Gegenwart. Man kann daher das Blut schmecken in meiner Musik - aber ich hoffe, acuh Freude und Glück erkennen.» Das Politische in der Musik der Oscar Edelstein schlägt sich indessen nicht in direkten Bildern oder Texten nieder. Es erscheint in sublimierter Form, als ob man die Wirklichkeit Argentiniens durch ein Prisma betrachtet: Nicht die Realität selbst wird abgebildet, vielmehr wird sie durch das Prisma fokussiert, gebrochen, transformiert. Mit Hilfe des Prismas (eines Kristalls) verändert sich der Blickwinkel. Das ist die Grundidee von Cristal Argento I, einem Auftragswerk der Basel Sinfonietta. Musikalisches Action Painting Das viersätzige Stück is for full Orchestra and Electronic Processes. Die Elektronik wird wie eine Folie, ein Abbild eingestezt: Sie nimmt den Klang des Orchesters auf und gibt ihn anschliessend wieder. Eine erneute Darstellung des gerade Erklungenen, allerdings in modifizierter Form. Vergleichbar mit menschlicher Erinnerung: Sie holt Vergangenes nochmal hervor, aber filtert, verändert, verfälscht vielleicht sogar. Ein musikalisches Mittel, das Moment der Unschärfe, der Inexaktheit darzustellen, ist die Improvisation. Und tatsächlich erinnert die Klangsprache Edelsteins zuweilen an Freejazz, er selbst verweist auf den Saxophonisten John Coltrane. Eine Passage seines neuen Werks, überschreiben mit «Noch eine Nachtigall baut ein Net in der Perücke von Voltaire», wird wie aus dem Stegreif gespielt. In Wirklichkeit aber handelt es sich um ein «Quasi Improvisando.» Musikalische Freiheit ausdrückend, aber ausnotiert. «Ich glaube nicht an die Improvisation», sage Oscar, «aber ich mag den Kontrast zwischen dem Rationalen und dem Irrationalen», mithin den Kontrast zwischen dem Fixierten und dem Ungeplanten. «Wenn dein Entscheidung dich selbst überrascht, dann ist es auch möglich, das Publikum zu überraschen.» Edelstein strebt Ausdrucksmomente an, die in ihrer Machart den Action Paintings von Jackson Pollock verwandt sind: hervorgebracht mit einer bestimmten Kraft und Unmittelbarkeit und nicht vollständig vorhersehbar. Zwischen Alptraum und fantastischem Karneval Ein Schlüsselerlebnis in Hinblick auf das Irrationale und Metaphysische war die Begegnung des Komponisten mit einem «verlorio del angelito», So nennt man in Argentinien Begräbnisse von Kindern. Die Vorstellung dahinter: Wenn ein Kind stirbt, dann muss Gott einen Fehler gemacht haben, indem er versehentlich einen Engel auf die Erde geschickt hat, der nun zurückgeht. «Die Klänge der verschiedenen Folkloregruppen, die alle zur selben Zeit speilen, diese Mixtur der Rhythmen von Chamamé, Polka und Chacarera kombiniert mit der Figur der ‹Lloronas›, geliehener Klageweiber also, das lag irgendwo zwischen seltsamem Alptraum und fantastischem Karneval. Dies wieder wachzurufen, in Klang zu fassen, stellt eine unendliche Herausforderung dar», meint Oscar Edelstein. Cristal Argento I ist ein vielschichtiges Werk - klanglich wie intellektuell. Es baut auf folkoristichen Motiven auf, ohne Folklore zu sein. «In vielerlei Hinsicht fühle ich mich wie ein populärer Musiker, de studiert hat.» Diese Haltung ermöglicht es Oscar abstrakte Klang - und Ideenwelten zu erschliessen und diese in einer komplexen musikalischen Sprache zu vermitteln. Gleichzeitig aber bleibt seine Musik in den Impulsen und Vorstellungen der Volkskunst verwurzelt. Rainer Schlenz SWR Studio Ulm |